Spiel nicht mit den Flüchtlingskindern…

Veröffentlicht von Lars Gräßer am

Screenshot zum Spiel “Refugees – 4 Monate, 4 Camps”

…oder lieber doch? Von der Genese eines Newsgames bei ARTE

Gastbeitrag von Uwe Lothar Müller

Für Spielchen sind die Redakteure bei ARTE Reportage natürlich schon zu reif, doch der Senior und Chef, Philippe Brachet, wollte mal was Neues ausprobieren: Da gebe es doch diese Newsgames oder Serious Games im Internet, bei denen man ersthafte Themen spielerisch aufbereite, um mal ein anderes Publikum zu erreichen, die Jungen, die dauernd surfen und spielen. Da könnte man doch unsere Webdokumentation “Refugees” – vier Künstler besuchen Flüchtlingscamps in Nepal, im Irak, im Libanon und im Tschad – prima um ein fünftes Element bereichern. Und die Jungen für ein Thema interessieren, dass die, klassisch aufbereitet, nicht interessierte.  Skeptische Blicke: Ein Spiel mit Flüchtlingen? Bei ARTE?

Aber die jungen Multimediaredakteure, alle halb so alt wie wir, waren begeistert! Wir luden eine Produktionsfirma ein, die zeigte uns, was man im Netz schon alles angestellt hatte, um Themen wie Hunger, Flucht und Vertreibung ernsthaft-spielerisch in Szene zu setzen. Uns wurde klar: Das können wir auch! Ja, allem Anfang wohnt ein Optimismus inne… Der Plot: “Werden Sie ARTE Reporter und berichten sie über das Leben im Flüchtlingscamp”. Die User gehen im Spiel in die Camps, treffen Flüchtlinge und Helfer, interviewen sie und schneiden ihre eigene Reportage, die die Chefredakteurin dann abnimmt. Die gelungenen Reportagen werden im Internet gezeigt und ausgezeichnet. Ganz einfach! Dachten wir… Zwei Multimediaredakteure entwarfen das Spiel: Es entstanden, zu unser aller Überraschung, Pläne von  allerhöchster Komplexität, eine Art mathematischer Alptraum.

Nepal war das erste Camp. Der Kameramann drehte mit dem Kinoregisseur, der Schriftstellerin, dem Comiczeichner und dem Fotografen, um dann noch die Szenen für das Newsgame zu filmen. Natürlich waren es viel zu wenige, das merkten wir aber erst zuhause. Krisensitzung – eine von vielen, wir hatten den Aufwand für das Newsgame total unterschätzt – das fünfte Element der Webdokumentation machte so viel Arbeit wie die vier anderen Elemente zusammen. Und alles auf Deutsch, Französisch, Englisch…

Screenshot-Nepal-BoucleWir zogen es durch, blauäugig, aber eisern. Obwohl wir uns schon mal im Stillen schworen: Nie wieder – etwa, als der Lagerleiter im Tschad uns die Genehmigung für den Dreh des Newsgames unter der Nase wegzog. Oder als unsere Vorgesetzten uns am Ende noch freundlich baten, den Begriff “Game” im Zusammenhang mit Flüchtlingen doch lieber zu vermeiden. Als es dann endlich online ging, nach allen Pannen und Krisen, da wurden wir überrascht von der Resonanz: Alleine das Newsgame brachte so viele Klicks wie der Rest der Webdokumentation. Viele Anfragen kamen, wie wir das denn gemacht hätten, das Erziehungsministerium in Paris wollte das Newsgame für den Unterricht an Schulen. Heute, zwei Jahre danach, sind alle Wunden verheilt, da träumt der Senior und Chef schon wieder von einem neuen Newsgame, bald, bei ARTE…

Uwe Lothar Müller, studierte Germanistik, Philosophie und Politische Wissenschaften und besuchte die Henri-Nannen-Schule. Nach sechs Jahren bei Radio Bremen, ab 1997 Reporter bei ARTE. Dann vier Jahre lang Redaktionsleiter von ARTE Info und Stellvertretender Chefredakteur der Informationssendungen, seit 2009 Stellvertretender Redaktionsleiter von ARTE Reportage. 2015 wurde “Refugees – vier Monate, vier Monate” für den Grimme Online Award nominiert. Entstanden ist eine eindrucksvolle Web-Reportage, die den Nutzern zudem die Möglichkeit gibt, sich selbst in die Rolle des Reporters zu begeben und aus dem vorhandenen Material eine eigene Multimedia-Story zu kreieren.

Dieser Beitrag erschien in leicht geänderter Form zuerst in der Preispublikation zum Grimme Online Award 2016, die das Thema “Games” von verschiedenen Seiten beleuchtet.


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