Netflix, Mr. Dicks oder der Abschied vom linearen Fernsehen

Veröffentlicht von Lars Gräßer am

Screenshot "Mr. Dicks" Preisträger beim Grimme-Preis 2015
Screenshot "Mr. Dicks" Preisträger beim Grimme-Preis 2015
Screenshot “Mr. Dicks” Preisträger beim Grimme-Preis 2015

Ein Gastbeitrag von Steffen Grimberg, Leiter Grimme-Preis

Als im September 2014 Netflix seinen deutschen Ableger startete, stand es plötzlich leibhaftig vor der Tür: Das Ende des Fernsehens wie wir es kennen. Das Aus für ein lineares Angebot, wo alle zu einer bestimmten Zeit vor einem bestimmten Gerät sitzen müssen. Ein neues TV-Zeitalter brach an, hieß es unisono in den Medien, mal jubelnd-euphorisch, mal kulturpessimistisch argwöhnend.

Gestimmt hat das natürlich schon damals nicht, war aber beste Werbung für die Netflixer, die das ganze Ballyhoo einigermaßen amüsiert zur Kenntnis nahmen und sich – man kennt das von Google – hübsch bescheiden als bloßer Dienstleister präsentierten. Und betonten, dass da keinesfalls die Absicht bestehe – wie medial unterstellt –, den hiesigen TV-Markt aufzurollen. Nein, das deutsche Fernsehen findet nach wie vor bei ARD und ZDF, RTL und Sat.1, ProSieben und Tele5 usw. usf. statt, vorzugsweise ab acht Uhr abends und vorzugsweise im Sitzen. Auch wenn Netflix bei seiner Präsentation natürlich die Option dabei hatte, sich seine Lieblingsserie auf das ins Cockpit des Hometrainers integrierte Tablet zu streamen.

Und doch tut sich was im deutschen Fernsehen, das bei aller ihm innewohnenden Schwerfälligkeit – pardon: Seriösität natürlich! – nach und nach das Netz entdeckt. Mit den Mediatheken als zusätzlichem Verbreitungsweg und (zumindest zeitweisem) TV-Archiv. Mit mehr oder weniger liebevoll und ernst genommen Youtube-Kanälen, die vor allem im Bereich Unterhaltung beginnen, die Befindlichkeiten der Programmhierarchen zu überwinden. Und, wenn auch eher unfreiwillig, mit dem nun von der Politik beauftragten Jugendangebot, das anders als ursprünglich vorgesehen, ja nun gar nicht mehr im normalen Fernsehen, sondern online stattfinden soll.

Screenshot "Zeit der Helden", Preisträger beim Grimme-Preis 2014.

Screenshot “Zeit der Helden”, Preisträger beim Grimme-Preis 2014.

Das geht natürlich auch am Grimme-Preis nicht spurlos vorbei. Zum Glück. Schon 2014 war mit “Zeit der Helden” ein Preisträger-Film dabei, der zu einem ganz erheblichen Teil ein Online-Eigenleben führte, die Biografien seiner Helden weiterspann, die Nutzer einband in die in Echtzeit erzählte Geschichte dreier ganz normaler Paare – mit leichtem Hau – aus der Provinz. Reste davon sind übrigens immer noch auf www.zeitderhelden.de zu besichtigen.

Und dieses Jahr schaute Mr. Dicks vorbei im Grimme-Institut und konnte die Jury überzeugen. Egal, ob die schöne Geschichte stimmt, nach der die damalige WDR-Intendantin Monika Piel so verzweifelt war, dass sie mit einem kleinen Geldtopf zum Radio ging, weil ihren Fernsehleuten nichts mehr einfiel: Hinter der crossmedialen Entwicklungsredaktion, aus der Mr. Dicks und das ebenfalls für einen Grimme-Preis nominierte Format “Die unwahrscheinlichen Ereignisse im Leben von…“ entstammt, steckt jede Menge Grips der WDR-Jugendwelle 1LIVE. Und mit deren Wellenchef Jochen Rausch steht am 27. März ein waschechter Radio-Mann in Marl auf der Bühne – und bekommt einen Fernsehpreis. Wobei Mr. Dicks natürlich auch im Netz lebt, und zwar hier sowie unter mrdicks.de.

Fernsehen lebt und verändert sich, ist immer noch linear und doch überall und jederzeit. Damit verändern sich auch Inhalte, Formate, Verpackungen. Nicht immer ganz so schnell wie es am Anfang gern großspurig verkündet wird. Und in Deutschland im öffentlich-rechtlichen Bereich auch durch – sagen wir mal: nicht eben entwicklungsfreundliche rechtliche Grundlagen eher gedämpft. Der Rundfunkstaatsvertrag setzt ARD, ZDF & Co. formal in der digitalen Welt noch enge Grenzen. Doch das Umdenken – siehe Jugendangebot – hat schon eingesetzt. Grimme ist dafür bestens gerüstet: Die Preise suchen nach Qualität und Innovativem – in welchem Format, ob linear, crossmedial oder ganz egal, auch immer.

Wer sich selbst einen Eindruck verschaffen will: Am 27. März wurde der Grimme-Preis im Theater Marl vergeben. Die Mitschnitte der TV-Sendung und des Livestreams sowie diverse Einspielfilme sind in der 3sat-Mediathek verfügbar. Der Mitschnitt der Sendung aus 2014 steht noch bis zum 4. April 2015 bereit.


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