Zwischen Klickbetrug, Klima-Aktivismus und Queerness

Veröffentlicht von Lars Gräßer am

Text von: Rabea Gruber

Die Nominierungen für den 56. Grimme-Preis sind raus! Schon längst kommen für einen Grimme-Preis nicht mehr nur Formate in Frage, die tatsächlich im linearen Fernsehen laufen. Geschichten werden auch (und zunehmend) im Internet erzählt. Einige nominierte Produktionen mit Netzbezug stellen wir hier vor.

Ilhan Coskun trifft einen „Social-Media-Experten“ für die Reportage „Der Rap-Hack“ / Screenshot „Y-Kollektiv“

In der Kategorie „Kinder und Jugend“ nominiert ist die Web-Reportage Y-Kollektiv: Der Rap-Hack – Kauf Dich in die Charts! von der auch beim Grimme Online Award schon mehrfach nominierten und ausgezeichneten Produktionsfirma sendefähig, die für funk und Radio Bremen produziert. Y-Kollektiv-Reporter Ilhan Coskun fragt sich in der Produktion, wie Rapper in Deutschland kontinuierlich Streaming-Rekorde brechen können: Kaufen sich Künstler wirklich Klicks und Views, wie ihnen teils vorgeworfen wird? In einem Selbsttest nimmt Coskun einen Song auf, dreht ein Musikvideo und versucht, sich „nach oben zu kaufen“.  Wie Coskun die Manipulationsfähigkeit der Online-Plattformen aufzeigt, ist ernüchternd und bringt einen gewaltigen „Aha“-Effekt mit. Darüber hinaus ist sein Ausflug in die Rap-Szene sehr amüsant anzusehen.

Den Ansatz, aktuelle Themen mit unterhaltsamen Momenten zu verbinden, verfolgen auch die Jäger und Sammler, ebenfalls ein funk-Angebot, dieses Mal produziert von UFA X für das ZDF: „Warum ist es so schwierig, Neonazi-Konzerte zu verbieten? Was ist das eigentlich für ein Bild, das Zeitschriften jungen Mädchen vermitteln? Kommen unsere Altkleider-Spenden wirklich bei Bedürftigen an?“ In jeder Folge werden die Hintergründe zu einem Thema mit Expert*innen diskutiert. Dafür gab es 2017 schon einmal eine Grimme-Preis-Nominierung und 2018 eine für den Grimme Online Award. Im dritten Anlauf ist jetzt nicht nur das Format nominiert, sondern zusätzlich auch Moderatorin Nemi El-Hassan. Für ihre „ausgezeichnete Moderation“ erhielt sie eine Spezial-Nominierung.

Talksendung zum Thema: „Wie weiß ist Klimaaktivismus?“ / Screenshot „Karakaya Talk“

Mit Karakaya Talk von Labo M für den WDR geht eine weitere funk-Produktion ins Rennen um einen Preis in der Sparte „Kinder und Jugend“. Die Talkshow mit Moderatorin Esra Karakaya ist im November 2019 gestartet und hat sich vorgenommen, „die schwierigsten Themen zwischen Pop und Politik juicy zu machen“.  Die erste Folge, „Wie weiß ist Klimaaktivismus?“, generierte bereits große Aufmerksamkeit und jede Menge Kommentare in den sozialen Netzwerken – die zwischen Begeisterung, Kritik und Aufregung schwankten. Nun könnte sich das junge Format gleich die erste Auszeichnung abholen.

Wer ist hier behindert? Unter dieser Frage porträtierte das Team von 100percentme, einer Produktion von VICE Media GmbH für funk, bis zum Jahreswechsel den Alltag von jungen Menschen mit Behinderung. Dafür suchten die Macher*innen immer wieder Menschen aus der Community, die ihre Geschichte erzählen wollten. Wovon 100percentme eindeutig viel verstand, war Community-Building. Die Zuschauer*innen konnten nicht nur selbst zu Protagonist*innen werden, sondern tauschten sich auch online mit anderen Mitgliedern aus, gaben Tipps und unterstützten sich gegenseitig. So ging es in dem Format nicht in erster Linie um die Schwierigkeiten, denen junge Menschen mit Behinderung begegnen, sondern um die Ideen, mit denen sie diese meistern. Ende 2019 wurde bekannt gegeben, dass funk 100percentme einstellt.

Die Mädels-Runde aus „Druck“ / Foto: Gordon Muehle

Apropos Community: Besonders interaktiv mit den jugendlichen Zuschauer*innen geht auch die Webserie DRUCK um, produziert von Bantry Bay für ZDF/funk. Den Erlebnissen der Mädels-Crew um Hanna, Mia, Kiki, Sam und Amira können die Zuschauer*innen nicht nur in den einzelnen Folgen der Serie folgen, sondern auch bei Instagram und in einem eigenen DRUCK-Messenger. Die deutsche Adaption der erfolgreichen norwegischen Jugendserie Skam ist bisher vier Staffeln lang – wie eine fünfte aussehen könnte, spekulieren Fans bereits online.

In der Kategorie „Information und Kultur Spezial“ ist mit STRG_F eine weitere funk-Produktion nominiert. Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg können „für die wirkmächtige Aufbereitung ihrer exklusiven Recherchen und Bilder von einer Fahrt mit dem Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3“ nun auf einen Grimme-Preis hoffen.

Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg sind für ihre Recherche auf der Sea-Watch 3 nominiert / Screenshot „STRG_F“

Auch beim Streaming-Anbieter Netflix kann man sich über gleich mehrere Nominierungen freuen. Die btf-Produktion How to sell drugs online (fast) tritt um die Auszeichnung in der Sparte „Kinder und Jugend“ an und konkurriert in dieser Kategorie unter anderem mit der Netflix-Produktion Wir sind die Welle (Rat Pack Filmproduktion, Sony Pictures Film und Fernseh Produktions GmbH für Netflix). Für seinen besonderen Umgang mit der Musik als handlungsbestimmendem Element ist die Drama-Serie Skylines der Produktionsfirma Komplizenfilm mit einer Spezial-Nominierung im Wettbewerb „Fiktion“ bedacht worden.

Unterdessen hat es auch Preisverleihungs-Dauergast Jan Böhmermann wieder einmal geschafft, die Nominierungskommission zu überzeugen. Der Beitrag über die Entschädigungsansprüche des Hauses Hohenzollern gegenüber der Bundesrepublik ist aufwendig recherchiert und kommt mit einem zusätzlichen Webangebot daher, wo Interessierte unter anderem die vollständigen Gutachten zu dem Fall finden und sich mit konkreten Rechercheaufgaben selbst daran beteiligen können. „Eier aus Stahl: Prinz Georg Friedrich von Preußen“ ist in der Kategorie „Unterhaltung Spezial“ nominiert und könnte Böhmermanns Neo Magazin Royale den sechsten Grimme-Preis einbringen.

Der „Prince Charming“ Nicolas suchte vor der Kamera seine große Liebe / Screenshot „Prince Charming“

Und dann war da noch der Überraschungstreffer unter den Nominierten: Prince Charming, die erste homosexuelle Datingshow im deutschen Fernsehen, die auf TVNOW, dem Streamingdienst von RTL, lief. Nun gibt es nicht gerade wenige Kuppelshows, doch üblicherweise stehen die eher selten auf den Nominierungslisten für Fernsehpreise. Warum also Prince Charming? TV-Produzent Stefan Vobis, der mit in der Nominierungskommission saß, sieht das Besondere der Sendung darin, „dass Platz gelassen wird für die schwierigen Themen, die jeden queeren Menschen begleiten: Mobbing, Coming Out und der Rechtfertigungsdruck, unter dem gleichgeschlechtliche Beziehungen immer noch stehen“. In einem Interview auf dem Nollendorf-Blog (nominiert für den Grimme Online Award im Jahr 2016) stellt Vobis fest, dass deutschen Fernsehmacher*innen häufig immer noch „der Mut fehle“, speziell im Unterhaltungsfernsehen queere Lebensrealitäten abzubilden. „Prince Charming“ mache da einen wichtigen Schritt.

Insgesamt sind 73 Produktionen und Einzelleistungen für den Grimme-Preis 2020 nominiert. Die Nominierungskommissionen guckten sich dafür durch über 850 Vorschläge. Wer zu den Preisträger*innen gehört, wird am 3. März bekannt gegeben. Am 27. März findet dann die Preisverleihung im Marler Theater statt.


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