Kiek dia dat ma an! Berliner Geschichte

Veröffentlicht von Interviews Nominierte 2021 am

Screenshot “berlinHistory App”

Was sind Geisterbahnhöfe? Wo lebten und wirkten berühmte Berliner Persönlichkeiten? Und wie sah der Potsdamer Platz früher aus? Die berlinHistory App macht Berliner Geschichte auf digitale Art und Weise erfahrbar. Zahlreiche Bilder, Videos, Zeitungsartikel und Original-Tonaufnahmen führen die Nutzer*innen durch die unterschiedlichsten Epochen der Hauptstadt. Das Stichwort Partizipation wird bei der App großgeschrieben: Ob echte*r Berliner*in oder Touri aus Australien: Jede*r kann Inhalte auf die offenen Plattform beisteuern.

Die berlinHistory App ist für den Grimme Online Award 2021 in der Kategorie “Kultur und Unterhaltung” nominiert. Wieso die App so einzigartig ist und was die Macher der App noch planen, verraten uns im Interview Rainer E. Klemke, Vorsitzender des Vereins berlinHistory e.V., und Grafikdesigner Oliver Brentzel.

Es gibt viele Apps zur und über die Geschichte Berlins. Was genau war das Ziel der berlinHistory App? Was macht sie, im Gegensatz zu anderen Apps, so einzigartig? Sie wird ja relativ selten gelöscht.

Rainer E. Klemke: Ja, das ist sehr erfreulich. Das hängt gerade mit dem Konzept zusammen, warum so wenig gelöscht wird. Jeden Tag kommt etwas Neues dazu und wir sind keine Ein-Thema-App, die man sich einmal anguckt und dann ist gut. Es gibt ein sehr breites Spektrum über alle Felder der Geschichte und alle historischen Schichten hinweg. So ist für jeden irgendwas drin und wir holen unsere Interessenten aus ganz unterschiedlichen Bereichen ab. Wir haben z. B. die Orgel-App, die Geschichte der Berliner Orgeln mit Klangbeispielen; da kommen Musikliebhaber rein. Wir haben die Geschichte des Berliner Fußballs, da kommen Fußballfans rein und finden zufällig auf der Karte andere Dinge, von denen sie gar nicht wussten, dass sie auch spannend sind. So verführen wir die Menschen, in andere Themenbereiche reinzugehen. Grundsätzlich haben wir vier Ziele mit der App. Erstens: Ich habe als Referatsleiter in der Kulturverwaltung in Berlin Millionen dafür ausgegeben, um die “Lange Nacht der Museen” zu etablieren, das “Jahresthema” zu machen und andere Events. Da sind viele Inhalte erarbeitet worden, auch für Ausstellungen in den Museen. Dann war das alles vorbei und die Dinge waren weg. Mir ging es darum, diese wichtige Arbeit dauerhaft für das Publikum zugänglich zu machen. Zweitens ging es mir darum, aktive Plattformen zu schaffen, auf denen diese Inhalte präsentiert werden können. Drittens, und das unterscheidet uns eben von anderen: die Inhalte zu verorten und auf verschiedenen historischen Karten zu sehen. Zum Beispiel zu zeigen: Wie war der Stadtplan von 1928 oder das Luftbild von 1989? Wie hat sich das verändert zu früheren Luftbildern? Man kann also in seiner Umgebung gucken: Was war da für Geschichte? Genau das ist das vierte Ziel der App: Dem Publikum diesen Entdecker-Modus anzubieten und immer etwas Neues zu erzählen. Beispielsweise geht man beim nächsten Spaziergang in einen anderen Stadtteil und guckt sich an, was es dort alles gibt. Zielgruppe sind auch die 65 % aller Berliner, die nicht aus Berlin stammen und die jetzt versuchen, Wurzeln zu schlagen. Unser Team hat sich eigentlich bei dem Projekt Rummelsburg kennengelernt. Rummelsburg war zur Kaiserzeit, zur NS-Zeit und zur DDR-Zeit eine Haftanstalt. Die Anwohner dort kommen zum großen Teil aus Westdeutschland und haben in dem ehemaligen Gefängnis jetzt schicke Lofts. Die wollten jetzt wissen: Wo wohnen wir hier eigentlich? Wir haben für diese Gedenkstätte eine App gemacht, die Audiorundgänge und Zeitzeugen-Interviews hat, Dokumente veröffentlicht und vieles mehr. Oliver Brentzel hatte dann die Idee: Warum machen wir das nicht für ganz Berlin?

Screenshot “berlinHistory App”

Oliver Brentzel: Das Besondere ist einfach diese Offenheit. Wir bieten eine offene Plattform für alle Institutionen der Berliner Geschichte und die machen zahlreich mit, sind begeistert und stellen uns ihre Inhalte zur Verfügung. Oder wir erstellen gemeinsam neue Projekte, z. B. mit dem Stadtmuseum das Thema “1945″. Diese Offenheit gegenüber Partnern und gegenüber Inhalten, das ist das, was uns auszeichnet. Dass wir nicht alle Inhalte zu einem Zeitpunkt selber generieren, sondern dass wir diese Plattform haben und alle relevanten Institutionen Berliner Geschichte bei uns eingeladen sind mitzumachen – auch private Sammler. Wir haben beispielsweise in unserem Verein einen Stadtplan-Sammler, der eine riesige Sammlung an Stadtplänen hat, die wir jetzt in der App benutzen, sodass wir, passend zu den verschiedenen Themen, verschiedene Stadtpläne auf die originalen digitalen Stadtpläne drauflegen können. Dadurch wird Geschichte erfahrbar. Wir haben für das Thema “1945″ eine sehr genaue Karte, wo alle Kriegsschäden eingezeichnet sind, sodass man wirklich sehen kann, welches Haus unbeschädigt blieb und welches Haus schwer beschädigt worden ist.

Rainer E. Klemke: Wir haben natürlich auch einen Überflugfilm, in dem man von oben sehen kann, wie ein Flugzeug in Farbe die zerstörte Stadt filmt. Wir haben außerdem Bilder von Kriegsberichterstattern, die Berlin zu diesem Zeitpunkt fotografiert haben. Da kann jeder mitmachen, indem man dieses Bild seinem Smartphone entnimmt und guckt, wo der Fotograf damals gestanden hat, und dann ein Bild von heute macht, sodass man ein Vorher-Nachher-Bild davon erstellt. Dieses kann man dann hochladen und es wird bei uns in der App durch das Publikum bewertet, wer am besten geschafft hat, diesen Wechsel zu dokumentieren.

Screenshot "berlinhistoryApp"
Screenshot “berlinhistoryApp”

Oliver Brentzel: Genau diese Interaktivität ist das Besondere und auch, dass wir immer die App durch neue Ideen erweitern. Diese Vorher-Nachher-Kamera beim Thema “1945″ hatten wir am Anfang noch gar nicht. Das war eine Idee, die wir dem Stadtmuseum vorgestellt haben. Die haben sofort gesagt “Klar, lasst uns das machen” und sind dann als Partner mit eingestiegen und haben uns ihre Bildersammlung zur Verfügung gestellt.

Wen wollen Sie mit der App erreichen? Eher Touristen oder Berliner?

Oliver Brentzel: Sowohl als auch. Beide Zielgruppen sind für uns wichtig. Im Moment sind es vor allem die Berliner, weil ja nicht so viele Touristen in der Stadt sind. Aber wir haben alle Inhalte zweisprachig erstellt, sodass das ebenfalls für Touristen sehr interessant ist. Für die Tagestouristen vielleicht nicht, aber für die, die sich wirklich für die Stadt interessieren und länger hier sind schon. Inzwischen ist die Karte voll mit Pins, dass man in der App wirklich an bestimmten Orten in Mitte zu fast jedem Haus die Geschichte erfahren kann.   

Rainer E. Klemke: Das ist sehr unterschiedlich, weil wir natürlich die Berliner ansprechen, die ihre Stadt erfahren und kennenlernen. Geschichte macht aus einer Ansammlung von Häusern eine Heimat. Wenn ich weiß, was hier passiert ist, dann bekomme ich einen ganz anderen Bezug zu der Gegend, in der ich wohne, lebe oder arbeite. Bin ich aber in einem Hotel und hab noch zwei Stunden Zeit, um zu sehen, was es hier gibt, mache ich die App auf und sehe rund um das Hotel, was ich mir noch angucken kann. Das ist eine Faszination, die andere so nicht anbieten. Wir werden auch weltweit wahrgenommen: An amerikanischen und englischen Universitäten werden große Kontingente von uns gedownloadet, um die Geschichtsmetropole Berlin in ganz unterschiedlichen Facetten zu erfahren. Wir bekommen Feedback, zum Beispiel meldete sich jemand aus Australien und sagte: Das eine Haus dort in Berlin-Mitte, das hat meiner Großmutter gehört – und daraufhin bekommen wir von denen Material. So wächst die App durch das Feedback mit den Usern. Wir gehen auch selbst in die Welt hinaus und veröffentlichen eine App in unserer App über die Emigration der Autoren der Bücherverbrennungen.

Die App soll eine “Maßnahme gegen die Hashtag-Kultur” sein. Was bedeutet das?

Rainer E. Klemke: Ich habe den Eindruck – und der wird durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt –, dass durch die Hashtag-Kultur der Blick immer mehr auf bestimmte Begriffe verengt wird und man nur noch Informationen zu bestimmten Themen bekommt. Dadurch verliert man die interessanten Dinge links und rechts aus dem Blick. Wir machen es genau umgekehrt: Bei uns kommt jemand mit einem speziellen Blick zu einem bestimmten Thema in die App und bekommt auf einmal eine Fülle von anderen Themen präsentiert. Etwa so wie früher, als man noch die Zeitung aufschlug und rechts unten einen Artikel sah und dachte: “Ach, das ist ja auch interessant, das wusste ich ja gar nicht. Da will ich mehr wissen.” Wir wollen den Blick weiten auf die verschiedenen Schichten und Dimensionen von Geschichte und zwar mit unterschiedlichen Tools und Herangehensweisen. Wir haben eine Serie, in der wir Bürger interviewen und diese ihre Geschichte erzählen lassen; beispielsweise erzählen Menschen aus Ost und West, aus unterschiedlichen Verhältnissen, Systemanhänger und -gegner, wie sie die Wiedervereinigung erlebt haben.

Partizipation wird bei dem Tool ganz groß geschrieben, da Nutzer*innen die App in gewisser Weise mitgestalten können, z. B. indem sie Vorher-Nachher-Bilder hochladen können. Sind alle nutzergenerierten Inhalte willkommen oder werden diese  auf  Richtigkeit überprüft und eventuell sogar wieder entfernt?  

Screenshot “berlinHistory App”

Oliver Brentzel: Wir prüfen alles, auch die Bilder. Alle Inhalte stellen wir nur ein, wenn wir wirklich mit unseren Partnern gesprochen und das überprüft haben. Wir lassen das zugleich auch von befreundeten Historikern prüfen.

Rainer E. Klemke: Wir lieben natürlich auch das Feedback von unseren Usern. Manchmal steht ein Pin auf der falschen Straßenseite, eine Jahreszahl ist falsch oder es gibt noch mehr über diesen Ort zu sagen. Das prüfen wir und arbeiten es gegebenenfalls ein.

Wer kümmert sich um Updates und darum, dass Inhalte erweitert werden? Das Team alleine oder ebenso kooperierende Institutionen?

Oliver Brentzel: Wir haben ein Content Management System, auf das einige Institutionen Zugriff haben. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW). war einer unserer ersten großen Partner. Die überarbeiten ihren Bereich sehr regelmäßig und fügen neue Inhalte hinzu. Institutionen, mit denen wir lange zusammenarbeiten, bekommen den vollen Zugriff und können ihre Inhalte ständig ändern und neue Inhalte hinzufügen.

Rainer E. Klemke: Wir eignen uns nichts an und geben nichts an Dritte weiter. Die Inhalte bleiben nach wie vor Eigentum des Absenders und der Absender steht immer drauf.

Könnte die Software auch als Grundlage für andere Städte-Apps dienen?

Rainer E. Klemke: Wir haben ein System entwickelt, wir nennen es Container, das wir anderen zur Verfügung stellen. Zum Beispiel: Der Landkreis Landsberg ist unser erster Partner, der die Landsberg History App erstellen möchte. Die machen ein ganz originelles System und wandern mit einem sogenannten Kultur-Container von Dorf zu Dorf, von Gemeinde zu Gemeinde innerhalb des Landkreises und sammeln Inhalte und Geschichten. Diese werden dann in unserem System in der Landsberg History App verortet und präsentiert.

Oliver Brentzel: Wir haben sehr viele Anfragen aus allen möglichen Gegenden. Wir sind gerne bereit, das System anderen Regionen zur Verfügung zu stellen und das gemeinsam für andere Städte zu erarbeiten. Die inhaltliche Kompetenz, die haben wir natürlich nur in Berlin. Das heißt, in anderen Städten bräuchten wir Partner, die inhaltlich kompetent sind und auch das Netzwerk haben, um die Institutionen an den Tisch zu bekommen. Wir sind daran interessiert, das System jedem anzubieten, der auf uns zukommt und sagt: “Das möchten wir auch haben.”

Rainer E. Klemke: Wir träumen eigentlich davon, aus vielen einzelnen Apps eine German History App zu bauen, die dem Besucher die Möglichkeit gibt, quer durch Deutschland zu gehen und – immer in dieser App bleibend – an den jeweiligen Orten das zu finden, was diese anzubieten haben.

Ein Blick in die Zukunft der App: Gibt es bereits neue Kooperationspartner oder Ideen?

Oliver Brentzel: Es gibt sehr, sehr viele Pläne. Wir haben wirklich eine große Menge Ideen. Manche davon haben wir schon angefangen umzusetzen, manche werden wir erst später umsetzen. Im Moment arbeiten wir z. B. daran, für Gedenkstätten Module anzubieten, damit dort Schülergruppen eine eigene Tour mit Fragen erstellen können.

Rainer E. Klemke: Wir wollen das letztendlich als Baustein nehmen für ein Schultool, mit dem aus den Inhalten Geschichten erzählt werden können, die in einem Projekt im Leistungskurs an einem Whiteboard in der Klasse gezeigt werden. Wenn sie eine bestimmte Qualität haben, können sie auf Empfehlung des Fachbereichsleiters bei uns in einem Sonderbereich übernommen werden. Gerade an den Schulen werden so tolle Arbeiten gemacht. Wir arbeiten auch an einem Projekt, bei dem Bürger oder Schüler zeitgeschichtliche Ausstellungen kuratieren können, damit aus dem Materialfundus, den wir anbieten, auch einzelne Ausstellungen digital erstellt werden können.

Oliver Brentzel: Wir arbeiten schon mit Universitäten zusammen und es gibt Seminare, die Inhalte erstellen und uns zur Verfügung stellen. Wir möchten gerne gemeinsam mit Universitäten neue Inhalte erarbeiten und die App insoweit weiterentwickeln, dass es noch geschützte Bereiche gibt, in die Schüler und Studentengruppen Inhalte einstellen können, ohne dass die schon für alle öffentlich sind.

Stichwort digitales Lernen! Das ist in Deutschland dringend notwendig, oder?

Rainer E. Klemke: Ja! Das Problem ist: Wir haben unser Schulkonzept in der Schulverwaltung vor zwei Jahren vorgestellt. Zunächst einmal haben sie gesagt: “Ja, ja, machen wir. Wir finanzieren das auch.” Daraufhin hat der Staatssekretär aber einen Rückzug gemacht und ist, aus anderen Gründen, zurückgetreten. Seitdem haben wir von der Schulverwaltung nichts mehr gehört, obwohl das in Corona-Zeiten genau das Arbeitsmittel gewesen wäre, das man exzellent hätte einsetzen können.

Oliver Brentzel: Wir bleiben am Ball und werden das Thema weiterverfolgen.

Screenshot Rainer E. Klemke und Oliver Brentzel im Interview

Das Interview führten Karine Naggar und Natalija Asceric. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.


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