„Ich hatte nie Angst“ – Im Gespräch mit Stephan Anpalagan

Veröffentlicht von Interviews Nominierte 2022 am

Stephan Anpalagan bei der Jurysitzung. Foto: Georg Jorczyk
Stephan Anpalagan bei der Jurysitzung. Foto: Georg Jorczyk
Stephan Anpalagan bei der Jurysitzung. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut.

Journalist, Strategieberater, Musiker und jetzt auch Jurymitglied des Grimme Online Award 2022 – das alles ist Stephan Anpalagan.

In seinen journalistischen Arbeiten beschäftigt er sich hauptsächlich mit gesellschaftlichen Themen und der deutschen Innenpolitik, wobei er den Schwerpunkt beim Thema Rechtsextremismus setzt. Er schreibt unter anderem für die ZEIT Christ & Welt, den Bayerischen Rundfunk, die Frankfurter Rundschau, Neues Deutschland, fluter und Krautreporter. Außerdem verfasst er Beiträge für polizeiwissenschaftliche und journalistische Sammelbände mit dem Schwerpunkt Extremismus in Sicherheitsbehörden. In seiner Funktion als Strategieberater und Geschäftsführer der Organisation „Demokratie in Arbeit“ berät er Unternehmen zu den Themen Vielfalt, Zugehörigkeit und Inklusion.

Im Interview spricht Stephan Anpalagan über seine Aufgaben als Jurymitglied des GOA 2022, seine Arbeit als Journalist und Gründer und er verrät uns, wie er es schafft in seiner Freizeit einen Ausgleich zu all dem zu finden.

Es ist das erste Mal, dass Sie beim Grimme Online Award dabei sind. Warum haben Sie sich entschieden, Teil der Jury zu werden?

Der Grimme Online Award und das Grimme Institut sind mir persönlich als Qualitätsinstitutionen und qualitativ hochwertige Preise bekannt. Zum einen habe ich es als besondere Ehre empfunden, in diese Jury berufen zu werden. Zum anderen interessiert es mich natürlich, in den Maschinenraum der Entscheidungen und in den Maschinenraum dieser Institution und Organisation hineinzuschauen. Außerdem ist es auch ein, wie ich finde, besonderes Privileg, über die publizistische und journalistische Arbeit von anderen zu befinden und diese dann auch noch auszuzeichnen, wenn man sie für auszeichnungswürdig hält.  Das alles in Summe hat dazu geführt, dass ich nach der Anfrage nicht lange gezögert habe.

Wurden Ihre Erwartungen an die Juryarbeit bisher erfüllt?

Sehr! Das hat, glaube ich, mit den anderen Jurymitgliedern zu tun. Die Zusammenarbeit bereitet mir große Freude. Die Qualität der Einsendungen war ebenfalls sehr hoch. Ich habe keine Vergleichswerte zu vorherigen Jahren, aber ich finde vor allem die Mischung aus den unterschiedlichen Medien, regionalen und überregionalen Angeboten und verschiedenen Plattformen spannend, sowie die Spannbreite von klassischem Journalismus, der digital stattfindet, in Textform, bis hin zu TikTok-Videos und größeren multimedialen Arbeiten. Sich das einmal in Ruhe anzuschauen und damit auseinanderzusetzen, das war meine Erwartung. Und diese Erwartung hat sich erfüllt bis übererfüllt. Ich könnte mir vorstellen, auf Lebzeiten in die Jury einberufen zu werden und diesen Posten sogar an meine Kinder weiterzuvererben.

Normalerweise werden Ihre Arbeiten von der Öffentlichkeit bewertet. Jetzt stehen Sie auf der anderen Seite und bewerten die Arbeit von anderen. Wie fühlt sich das an? Ist das komisch oder war es von Anfang an normal?

Das ist gar nicht komisch für mich. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich lange in der Wirtschaft, im Personalbereich und dort wiederum im Bereich Personalgewinnung und Recruiting gearbeitet habe. Daher habe ich lange Zeit beruflich damit zu tun gehabt, die Arbeit und die Qualität von Profilen zu bewerten und darüber zu entscheiden und zu befinden. Somit ist das für mich keineswegs neu.

Ich habe früher immer gedacht, dass es ganz besonders sein muss, nicht derjenige zu sein, der sich auf einen Job bewirbt oder dessen Arbeit und Portfolio bewertet wird, sondern endlich auf der anderen Seite des Tisches zu sitzen und entscheiden zu können. Und es ist auch etwas Besonderes, darüber muss man sich immer im Klaren sein. Man muss mit einer gehörigen Portion Demut an die Sache rangehen und sich bewusst machen, dass Menschen Leidenschaft, Ressourcen, Zeit, Geld und Engagement in ihre Projekte investiert haben. Und dass man mit jeder Entscheidung für oder eben gegen einen Beitrag, für eine Person oder eine Organisation in kleinem Maße Verantwortung trägt und seine Entscheidungen sehr gut begründen muss. Darüber bin ich mir, und ich denke auch alle anderen Jurymitglieder, bewusst.

Mit Blick auf den Entscheidungsprozess: Gibt es bestimmte Kriterien, auf die Sie besonders Wert gelegt haben?

Es gibt ja die klassischen Kriterien beim Grimme Online Award. Es muss sich beispielsweise um ein publizistisches Angebot handeln, welches im weitesten Sinne online stattfindet. Was mir besonders wichtig war, und da spreche ich nur für mich, ist eine herausragende bis auszeichnungswürdige handwerkliche Qualität. Dabei muss das Angebot herausstechen und eine gesellschaftliche Relevanz haben. Denn egal in welchem Medium man sich bewegt, man muss das journalistische und publizistische Handwerk beherrschen. Man kann auch mit Produkten und Beiträgen, die vielleicht nicht völlig überragend sind, ein großes Publikum erreichen. Um einen Grimme Online Award zu gewinnen, reicht das allerdings meiner Meinung nach nicht aus.

Darüber hinaus spielt das Digitale eine große Rolle. Man muss sich überlegen: Wie nutze ich im weitesten Sinne das Internet und all seine Darstellungsmöglichkeiten? Es muss etwas sein, wo Form und Funktion Hand in Hand gehen. Einen Zeitungsartikel zu nehmen und eingescannt einfach auf seine Webseite zu stellen, kann gut sein. Aber es ist eben nicht herausragend. Erfreulicherweise haben wir dieses Jahr viele Beiträge gehabt, die in diesem Bereich einen neuen Aufschlag gegeben haben. Als Leserin oder Leser, als Betrachterin und Betrachter will man etwas sehen, was man noch nie zuvor gesehen hat und was einen besonderen Impuls in einem auslöst. Und das nicht so sehr um der Aufmerksamkeit und der Technik willen. Es muss etwas für die Leserinnen und Leser Interessantes dahinterstecken, was transportiert werden soll. Das ist der harte Kern publizistischer Arbeit. Und jetzt ist dieses Medium Internet wiederum ein Gefäß, mit dem man Inhalte ganz besonders gut transportieren kann, und zwar so, dass die Leute in besonderer Form in der Lage sind, es zu rezipieren, und es ihnen leicht zugänglich gemacht wird.

Wie sind Sie dazu gekommen, journalistisch aktiv zu werden?

Ich habe evangelische Theologie und Anglistik studiert, aber letztendlich nur den Abschluss in der Theologie erworben. Während des Studiums habe ich bereits in der Wirtschaft gearbeitet. Nach dem Studium stand ich vor der Wahl, als Pfarrer in die Kirche zu gehen, mit meiner Band, die zu der Zeit sehr erfolgreich war, durchzustarten oder einen ganz schnöden Job in der Wirtschaft und Industrie anzunehmen. Ich habe mich dann für die Industrie entschieden und festgestellt, dass es mir große Freude macht. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass mir irgendwas fehlt. Ich habe ja aus bestimmten Gründen Theologie studiert, bin schon sehr lange Mitglied bei Amnesty International und habe, vorrangig in meiner Jugend, Flüchtlingshilfe geleistet. Und ich habe auch ganz bewusst Zivildienst geleistet. Geschrieben habe ich auch schon immer. Trotzdem einfach nur Personal-, Organisations- und Strategieentwicklung für Unternehmen zu machen, war nicht genug. Und dann kamen die Jahre 2017 und 2018, in denen die AfD „groß“ wurde. Ich hatte das Gefühl, dass präzise und komplexe Berichterstattung über die Frage, wie rechtes Gedankengut anschlussfähig an die Mitte der Gesellschaft wird, fehlt. Und auch die Frage, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen nach 2015 darstellen und wie das alles in einen sozialen Zusammenhang eingebettet ist, wurde für mich nicht ausreichend beantwortet. Für mich haben hier die Gesellschaft, Politik, aber auch weite Teile der Medien versagt. Man denke nur an die sogenannten Döner-Morde. Da habe ich angefangen, vermehrt über die AfD zu schreiben und ganz deutlich aufzuzeigen, dass sie keine bürgerliche Partei ist, was 2017 und 2018 durchaus ein Diskussionsthema war. Das hat mich geärgert. Also habe ich mich publizistisch und journalistisch betätigt und immer weitergeschrieben und irgendwann festgestellt: Hey, es gibt mehr zu tun, als ich anfangs gedacht habe. Nicht nur wegen dieser einen Partei, sondern generell wegen der Frage: Wie sieht es mit Extremismus in unserer Gesellschaft und auch weltweit aus? Darüber bin ich im Prinzip zum Journalismus gekommen. Und vor allen Dingen zur Publizistik.

Ich glaube, es gibt mehr zu tun als jemals zuvor, weil die gesellschaftliche Gesamtlage unübersichtlich ist. Es braucht starke Stimmen jenseits der großen Redaktionen und auch jenseits der kleinen Redaktionen. Es hat ganz viele Neugründungen gegeben in den letzten Jahren, von Correctiv über Übermedien, über Krautreporter, Riffreporterrepublik.ch und viele kleine Kollektive und Organisationen, die hervorragende Arbeit leisten und die Arbeit der sogenannten klassischen Redaktion sehr gut ergänzen. Es gibt da viel Raum und ich glaube auch Notwendigkeit, die Dinge, die um uns herum geschehen, einzuordnen und auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrzunehmen und anschließend in die Öffentlichkeit zu bringen. Das gehört zum Thema Vielfalt auch dazu. Nicht nur, dass jetzt auch Ali in der Redaktion vertreten ist und nicht nur Sören, sondern dass Menschen mit unterschiedlichem Blick auf die Dinge das Geschehen unserer Zeit kommentieren.

Sie setzen sich viel mit Rechtsextremismus auseinander. Gab es schon einmal die Situation, dass Sie aufgrund Ihrer Arbeit Angst vor rechter Gewalt haben mussten?

Das sind ja zwei unterschiedliche Dinge. Das eine ist, ob man Angst haben muss, das andere ist, ob man Angst hat. Ich hatte nie Angst. Ich habe über Neonazi-Organisationen und Rechtsextremismus in der Polizei geschrieben. Ich habe in einigen polizeiwissenschaftlichen Publikationen über die Vernetzung von Polizei und Querdenkern berichtet. All das bleibt natürlich nicht unbeobachtet und es gibt bestimmte Menschen, die versuchen, diese Art von Berichterstattung zu verhindern, unter anderem durch Einschüchterung. Das kann zum Beispiel von rechts passieren, innerhalb des bürgerlichen Gewands. Es kann passieren, dass man auf einer Liste landet und dann zu einem Personenkreis gehört, der nun mal auf so einer Liste steht. Dazu kann gehören, dass Polizistinnen und Polizisten eine besondere Meinung zur eigenen Person haben. In meinem Fall würde ich sagen, dass ich tatsächlich keine Angst habe, es ist, wie es ist, hilft ja nichts. Ich empfinde aber die Besonderheit meiner Arbeit darin, dass ich selbst bei einer Gefahren- und Gefährdungslage nicht einfach so zur Polizei gehen kann, da ich eine andere Perspektive habe, wie es um die eigene Sicherheit bestellt ist. Da muss man dann spezielle Vorkehrungen treffen, sagen wir mal so.

Ich habe das Gefühl, dass es aber tatsächlich besser geworden ist. In den Jahren ‘17, ‘18, ‘19 war die gefühlte und wahrgenommene Gefährdung durchaus höher. In den letzten zwei Jahren betrifft das nun eher die Kolleginnen und Kollegen, die über Querdenker- und Coronaleugner-Demos berichten. Hierbei besonders diejenigen, die in der Community leben, über die sie berichten. Dass die Leute, über die sie berichten, teilweise wissen, wo sie wohnen und sich auch nicht davor scheuen, vor deren Zuhause aufzulaufen. Da gibt es natürlich auch im Bereich der Neonazis bestimmte Beispiele. Ich erinnere mich an Julian Feldmann, der über Neonazis berichtet hat, wonach dann eine Neonazi-Parade an seinem Haus vorbeiführen sollte. So etwas gab es immer schon.

Sie haben das Unternehmen „Demokratie in Arbeit“ gegründet. Inwiefern hängt das mit Ihrer sonstigen Arbeit und Ihren Idealen zusammen? 

Es war im Grunde genommen die logische Verknüpfung von zwei Dingen, die ich bisher gemacht habe. Zum einen die Beratung im wirtschaftlichen Umfeld. Zum anderen die Auseinandersetzung mit pluralistischen, zivilgesellschaftlichen Entwicklungen bei den Themen Vielfalt und Diskriminierung. „Demokratie in Arbeit“ ist die Verbindung aus beidem.

Wir beraten klassische Wirtschaftsunternehmen, Organisationen und Medienorganisationen, um dort zu überlegen, wie man Vielfalt im Unternehmen etablieren kann. Es stellen sich beispielsweise folgende Fragen: Wie können Initiativen aussehen, um Vielfalt zu organisieren? Wie geht man mit Compliance-Verstößen um? Wie sieht es aus mit Corporate Social Responsibility? Reicht es, das Logo der eigenen Organisation in Westeuropa bunt einzufärben und im Middle-East-Sektor dann wiederum nicht? Oder muss man auch irgendwas tun? Kostet das Geld? Muss man Leute freistellen? Muss man sich engagieren? Das sind alles Fragen, die die Organisationen umtreiben. Das können Institutionen, Behörden, private Organisation und Medienorganisationen sein. Es gibt leider noch gar nicht so viele Menschen, die sich mit der Auseinandersetzung mit beispielsweise Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder Homo- und Transfeindlichkeit auskennen und gleichzeitig genau wissen, wie Unternehmen funktionieren, die Einblicke haben, wie ein Vorstand entscheidet oder wie eine Personalabteilung arbeitet. Hilfestellung geben und das voranzutreiben, das ist die Aufgabe von „Demokratie in Arbeit“.

Sie beschäftigen sich mit vielen Dingen gleichzeitig. Sie haben eben Ihre Band angesprochen. Wie viel Zeit hat das Musik machen noch in Ihrem Leben? Was bietet Ihnen ansonsten einen Ausgleich?

Die Musik hat bedauerlicherweise nicht mehr so viel Zeit in meinem Leben. Der Tag hat ja nur 24 Stunden. Man kann natürlich die Entscheidung treffen, mit dem Schlafen aufzuhören, aber dadurch wird die Zeit prinzipiell nicht mehr. Von daher ist nicht mehr so viel Raum für die Dinge vorhanden, die links und rechts passieren könnten im Leben. Ich bin da aber auch kein gutes Beispiel. Mein Leben wird beherrscht von Arbeit. Das kann ich keinem in dieser Form empfehlen. Aber das ist jetzt halt mal so und ich hoffe, dass es auch wieder besser wird.

Zum Ausgleich gucke ich mir zum Beispiel gerne Kochsendungen oder sowas wie Katzenvideos an. Wenn ich es schaffe, dann schmeiße ich mich in dem Hotel, in dem ich gerade bin, auf das Bett und gucke lineares Fernsehen, was ich zuhause nicht habe. Da gibt es dann manchmal so Brautmoden-Sendungen, die gucke ich mit ganz großer Leidenschaft. Früher habe ich immer gerne „Zwischen Tüll und Tränen“ geschaut, einfach weil es völlig absurd ist und so weit weg von allem anderen, was ich sonst mache. Man könnte natürlich den ganzen Tag in diesem Kosmos bleiben, 24 Stunden Texte lesen, Texte schreiben, Podcasts hören, sich auf dem Handy noch irgendwie um die eigene Gesundheit twittern. Das ist auf Dauer allerdings sehr anstrengend, daher sehe ich diese Momente als wichtige Gelegenheiten, sich zu zwingen, das Gehirn einfach mal reell abzuschalten. Ich gucke auch gerne diese Werbesendungen, die um Mitternacht laufen. Wenn Sie den Miracle Blade 3 bestellen und jetzt anrufen, kriegen Sie… Keiner kommt um die Ecke und erzählt dir, was welche Partei gerade wieder macht. Man kann sich einfach mal eine Dreiviertelstunde lang damit beschäftigen, dass dieses eine Messer richtig gut Zwiebeln schneidet. Generell gilt aber, dass wir alle mehr auf uns achten müssen – Rausgehen, frische Luft schnappen, die Technik einfach mal zu Hause lassen und ja, sich tatsächlich mit Katzenvideos irgendwie über Wasser halten, damit die Psychohygiene gewahrt bleibt.

Das Interview führten Linda-Noelle Wolter und Yohale Ahlert. Das Interview entstand in einer medienpraktischen Übung im Bachelor-Studiengang “Online Redaktion“ an der TH Köln.

Screenshot aus Zoom-Interview: Stephan Anpalagan
Screenshot aus Zoom-Interview: Stephan Anpalagan

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